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Samstag, 1. Mai 2010

Revolutionäre 1. Mai-Demonstration und Myfest am Abend

Mal eins vorab: Meine digitale Kodak habe ich dabei gehabt. Aber meine SanDisc steckte noch zuhause im Computer. Wer also Bilder von der Demonstration sehen will, muss bei bz-berlin.de oder tagesspiegel.de gucken gehen.

Um 18.00 Uhr soll die Demo beginnen, also mache ich mich auf den Weg. Das ist leichter gesagt als getan. Im U-Bahnhof Alexanderplatz stehen die Menschen in Sechserreihen auf dem Bahnsteig der U 8 in Richtung Hermannstraße, einige Optimisten haben sogar ihr Fahrrad dabei. Ich denke mir: Wenn schon so ein Gedränge im Zug, dann will ich aber einen Sitzplatz. Deshalb fahre ich zwei Stationen in die Gegenrichtung und steige am Rosenthaler Platz in den Gegenzug. Tatsächlich: Ein Sitzplatz ist noch frei, wie extra für mich freigehalten. "Ach du Sch..." entfährt es meinem Nachbarn erschrocken, als der Zug im Alexanderplatz einfährt, angesichts der immer noch großen Mengen potenzieller Mitreisender. Die Türen öffnen sich und in Windeseile verwandelt sich das Abteil in eine Sardinenbüchse. Der guten Laune der Reisenden tut das kein Abbruch. Einem großgewachsenen Punker gelingt es sogar trotz des Gedränges eine Bierflasche am Kronkorken einer anderen Flasche zu öffnen. Dass dabei Bier auf die Umgebung spritzt, ärgert ihn nicht weiter, er gibt gerne.

Am Kottbusser Tor leert sich der Zug. Angesichts des Getümmels und Gewimmels auf Bahnsteig und Treppen entscheide ich mich, bis zum Hermannplatz zu fahren und von dort zurückzulaufen.
Die Route der Demonstration führt über die Friedelstraße, die nördlich des Hermannplatzes parallel zum Kottbusser Damm verläuft. Die Straße ist wie leergefegt. Sonst sind die Seiten mit Autos zugeparkt, jetzt sind alle Autos weg. Wo haben die Anwohner bei der chronischen Parknot im Bezirk Parkplätze gefunden? Im Brandenburger Umland?
Es gibt nur wenige Lokale im unteren Teil der Friedelstraße. Einige haben geöffnet, nur wenige Menschen sitzen draußen. Ich gehe weiter in Richtung Spreewald Platz und finde einen Griechen, der geöffnet hat und vor dessen Tür Bänke und Tische stehen. Es sind nur ein paar Gäste da, ich setze mich dazu. Warum zur Demo gehen, wenn die Demo auch zu mir kommen kann.

Die Stimmung ist entspannt. Es sind nur wenige Leute auf der Straße, Balkone und Fenster sind nicht besetzt. Ich sitze beim zweiten Bier, als die Lage sich schnell verändert: Eine lange Kolonne von Polizeiwagen zieht vom Spreewald Platz her auf. Erste Polizeiwannen kommen aus der Gegenrichtung. "Kamelle, de Zoch kütt" schreit ein Witzbold von der anderen Straßenseite. Das Straßenbild ändert sich, Menschen kommen aus den Häusern und säumen die Straße, erste Teilnehmer der Demonstration laufen vorbei. Polizisten in Kampfmontur beschreiten die Straße in ganzer Breite. Einige sehen aus wie grüne Michelin-Männchen. Der Demonstrationszug, durch die Hausecke für uns noch unsichtbar, kündigt sich mit einem lauten Knall an. Mehrere Böller werden gezündet. Einige Demoteilnehmer, die seitlich am Zug mitlaufen, geraten zwischen die Bänke des Lokals, eine unbesetzte Bank stürzt um. Das ist das bisherige Ergebnis der Revolution: Beim Griechen ist eine Bank umgefallen. Für's erste zumindest ist das auch die aufregendeste Nachricht.
Die Demo ist höchst erstaunlich: Keine Transpartente, kaum Plakate, keine Parolen, keine Flugblätter, keine Sprechchöre. Wenn man nicht wüsste, wer da demonstriert, man hätte Mühe, es heraus zu finden. Das Ganze erinnert eher an einen organisierten gemeinsamen Spaziergang. Vom Wagen der AntiFa dröhnt Discomusik, fehlt wirklich nur noch, dass von dort einer Bonbons in die Zuschauer wirft.
Ich beschließe, zum Spreewaldplatz mitzulaufen und dann zum Myfest zurück zu kehren.
Der Platz und die weitere Umgebung sind voll. Es herrscht ein Gedränge und Geschiebe wie auf dem Oktoberfest. Die Lokale in der Wiener Straße sind geöffnet, vor dem "Wienerblut" wird getanzt, soweit das in dem Gedränge möglich ist. Polizei in großer Präsenz. Eine Gruppe Polizisten, den Autokennzeichen nach aus Niedersachsen, lassen sich auf Anfrage eine Fotografen ablichten und stellen sich dazu in Positur, bislang alles easy, auch wenn manche Beamte grimmig gucken und mir auf dem Gehweg keinen Platz machen wollen. Vor dem "Morgenrot" läuft bereits eine Technoparty, auch Kinder hüpfen begeistert im Rhythmus. Ich gehe rüber zur Oranienstraße und das Myfest hat mich wieder. Und wie. Als ich denke: Kehr' bloß schnell wieder um, war's schon zu spät: eine Menschenmauer hinter mir, eine Menschenmauer vor mir. Also lasse ich mich in Richtung Heinrichplatz schieben. Wer in dieser Menge eine Bratwurst auf einem Pappteller balancieren will, muss das über den Köpfen tun, zum Abbeissen bleibt keine Gelegenheit. Vor dem SO36 ist erstmal Schluß, nichts geht mehr, Stau in der Oranienstraße. Unterhalten werden wir von den großen Boxen vor dem SO36 mit knalligem Techno und von einem älteren Dickerchen, der hoch in der zweiten Etage im Fenster sitzt und sich fröhlich zur Musik bewegt. Als er seine ausgeprägten Männerbrüste unter dem T-shirt schüttelt, schreien alle begeistert und verlangen nach mehr. Allmählich habe ich es eilig: Die zwei Biere drängen zu Tage. Die Kneipen und Restaurants links und rechts sind rappelvoll, die scheinen mir nicht geeignet. Meine Hoffnung konzentriert sich auf den "Kuchenkaiser", der liegt weiter oben und einige Schritte abseits. Auf dem Weg dorthin schließe ich mich einer Polonaise an, die sieben oder acht junge Männer gebildet haben und die sich in erstaunlichem Tempo durch die Menge schlängelt. Westlich vom Heinrichplatz verliere ich den Anschluss, die Jungs sind zu schnell für mich. So schiebe ich mich wieder als Einzelkämpfer vorwärts. Auf die Gehwege kann man nicht ausweichen, dort stehen große und kleine Imbissstände dicht an dicht. Einige Kinder preisen ihre selbstgebackenen Kuchen und Kekse, säuberlich auf einem Küchentisch präsentiert, an. Ich habe andere Sorgen, die Zeit drängt. Den "Kuchenkaiser" finde ich hóffnungslos überfüllt, die Schlange vor den Toiletten reicht bis in den Gastraum. Quer über den Oranienplatz hetze ich in Richtung "Schmitz Katze". Auf dem Oranienplatz hat sich die Menge gelichtet, vom Mortizplatz her gehen Leute in Richtung Heinrichplatz weiter.
"Schmitz Katze" ist eine Oase. Am Tresen ist wirklich ein Platz frei, das Klo ist nur spärlich besucht. Ein bisschen werde ich bleiben, am Tresen sitzen, ein Weißbier trinken und in "Traurige Tropen" lesen, das Buch trage ich schon eine Weile mit mir herum und habe bislang nur einige Seiten geschafft. "Die Schönheit von New York beruht also nicht auf seinem städtischen Charakter, sondern darauf, dass sich diese Stadt in eine künstliche Landschaft verwandelt, in der die Prinzipien des Urbanismus nicht mehr gelten: die einzigen signifikanten Werte sind das samtene Licht, die durchsichtige Zartheit der Fernen, die erhabenen Abgründe zwischen den Wolkenkratzern und die schattigen Täler, die mit bunten Automobilen übersät sind wie mit Blumen." Was hätte Lévi-Strauss wohl über diesen Abend in Kreuzberg geschrieben? Meine Gedanken werden abgelenkt, einige männliche Touristen haben sich auf freigewordene Barhocker neben mich gesetzt. "War denn heute überhaupt Spieltag in der Bundesliga? Ist doch 1. Mai." Die Frage ist zwar nicht an mich gerichtet gewesen, ich beantworte sie trotzdem bereitwillig. Ja, heute wurde gespielt. "Wie hat denn St. Pauli gespielt?" Zweite Bundesliga, keine Ahnung. Ich kann nur sagen, dass Werder Bremen gegen Schalke gewonnen hat und Bayern deshalb nun Deutscher Meister ist. Ganz schlechte Nachricht für meine Nachbarn. Als Überbringer schlechter Nachricht werde ich nun mit Ignorieren bestraft.
Kurz vor 11.00 Uhr gehe ich wieder los, entschlossen, meinen Hunger durch den Aufkauf der Restbestände an Köfte und Falafel zu bekämpfen. Kaum bin ich auf dem Oranienplatz, fängt es an zu regnen. Na gut, dann eben nicht, ab nach Hause.

Dort erfahren ich, dass es am Spreewaldplatz doch noch zu Zwischenfällen gekommen ist: Ein Polzist wurde schwer verletzt, einer Demonstrantin wurde von einem Polizisten gegen den Kopf getreten. Schade und traurig. Von mir aus hätte es bei der einzigen negativen Nachricht bleiben können: Beim Griechen ist eine Bank umgefallen.

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